Einsturzgefahr
Abriss der Wichernkirche in Gießen
Anfang November fährt Brita Ratzel der Schreck in die Glieder. In Kassel ist das Dach der Elisabethkirche auf ganzer Länge eingestürzt, hört sie im Radio. Gottseidank kommt kein Mensch ums Leben. Der stellvertretende Kirchenvorstandsvorsitzenden der Gießener Wicherngemeinde schießt es durch den Kopf: Was hätte Gottesdienstbesuchern in der Wichernkirche passieren können; bei einem Herbststurm, bei schwerem Regen oder drückender Schneelast auf dem maroden Dach? Die Dachkonstruktionen der eingestürzten Kirche in Kassel und die der Wichernkirche ähnelten sich. Erst zwei Jahre zuvor war die Wichernkirche wegen Einsturzgefahr gesperrt worden.
Wichernkirche prägte das Wohnviertel
Brita Ratzel blickt heute auf eineinhalb schmerzhafte Jahre voller Hoffnung und Kontroversen in der Gemeinde zurück. Schließlich fiel die Entscheidung zum Verkauf der Kirche. Ein Abschied auf Raten begann. Für zwei Generationen evangelischer Christen war sie eine geistliche Heimat. Auch für nicht der Gemeinde angehörende Anwohner am Philosophenwald und im Evangelischen Viertel prägte das vertraute Gebäude die Identität des Wohnquartiers.
Wasser drang durch das Dach in die Kirche
Was nur die wenigsten wussten, seit vielen Jahren drang Wasser durch das Dach in die Kirche ein und hatte vor allem im Dach Schäden hervorgerufen. Im Juli 2021 griff die kirchliche Bauaufsicht zum Äußersten. Gottesdienste durften in dem Gebäude nicht mehr gefeiert werden, erzählt Brita Ratzel. Die Kirche wollte kein Risiko eingehen. Gewarnt war man vom Einsturz der Eislaufhalle in Bad Reichenhall, deren Dach 2006 der Last von Schnee nicht standhielt und Menschen unter sich begraben hatte.
Wo sollte die Gemeinde nun Gottesdienste feiern? Gastfreundschaft bewiesen rasch die katholischen Nachbarn der nahen Kirche St. Thomas Morus. Regelmäßig werden dort Wichern-Gottesdienste gefeiert. Zwei Pfarrerinnen, Wiebke Eßbach und Janina Franz, sind inzwischen unter dem Dach der Katholiken in ihr evangelisches Amt in Gießen Ost eingeführt worden.
Tränen der Trauer und der Wut
Über Monate flossen in der Wicherngemeinde Tränen der Trauer, bei manchen auch Tränen der Wut über „die Abwicklung der Kirche“, erinnert sich Brita Ratzel. Den Kirchenvorstand stellte die Entscheidung vor eine Zerreißprobe. Wenigstens standen die Verantwortlichen nicht allein mit dem baulichen Problem da. Seit 2020 gehörtern die benachbarten Gemeinden Andreas, Luther und Wichern zu einem sogenannten „Kooperationsraum“. Seit dem 1. Januar 2024 bilden sie die neue Evangelische Gesamtkirchengemeinde Gießen Ost. Das gemeinsame Gemeindebüro befindet sich seit geraumer Zeit schon am Lutherberg 1.
Reparatur des Kirchendachs war nicht zu finanzieren und zu verantworten
Im ersten Schritt wurde im Februar 2022 das Gemeindehaus und der baulich darin integrierte Glockenturm verkauft. Das Gießener Bauunternehmen Depant wollte das Grundstück für die Erweiterung des angrenzenden Neubaugebiets Philosophenhöhe auf dem ehemaligen Motorpool-Areal der US-Army. Schließlich fiel im Sommer 2022 die Entscheidung zum Verkauf auch der Kirche. „Wir hätten die Reparatur des Kirchendaches weder finanzieren noch langfristig verantworten können“, sagt Brita Ratzel traurig. Gebäudedämmung und Heizungsanlage entsprechen nicht den heutigen Anforderungen an den Klimaschutz.
Stellen musste sich die Gemeinde auch dem gesellschaftlichen und kirchlichen Wandel. In den Sechzigern, den Baby-Boomer-Jahren, wuchsen Gesellschaft, Wirtschaft und die Kirche noch. „Doch seit zehn Jahren sind die Mitgliederzahlen stark rückläufig“, erklärt Brita Ratzel. „Unsere Aufgabe als Kirche ist es, Gottesdienste zu feiern, aber auch für Menschen da zu sein, und je weniger Zeit und Geld wir künftig in Gebäude stecken müssen, umso mehr bleibt für soziale und seelsorgerliche Aufgaben.“
Stück für Stück wurde aus der Kirche getragen
Zunächst wurden Einrichtungsgegenstände aus dem Gemeindehaus verkauft oder an andere kirchliche und gemeinnützige Einrichtungen verschenkt. Seit dem Sommer 2023 trugen dann Ehrenamtliche wie Brita Ratzel zusammen mit der neuen Pfarrerin Janina Franz Stück für Stück aus der Kirche heraus. „So viel wie möglich wollten wir bewahren und die Wichernkirche auf diese Weise in der Erinnerung weiterleben lassen“, erzählt die junge Seelsorgerin.
Chronik
1961
Planungswettbewerb für eine Kirche zwischen Philosophenwald und Motorpool-Gelände der US-Army im Osten der Stadt
1963
Baubeginn (April) und Grundsteinlegung (August) am Straßendreieck Trieb, Lincoln Street und Jefferson Street (heute Fröbelstraße)
1964
Einweihung (1. Advent)
1965
Selbständigkeit der Ev. Wicherngemeinde, bis dahin „Baugemeinde“ der Ev. Luthergemeinde
1979
Orgelweihe (30. September)
2021
Bauaufsichtliche Sperrung der Kirche (August)
2022
Verkauf des Grundstücks mit Gemeindehaus, Turm, und der Kirche
2024
Abriss der Wichernkirche
Das Altarkreuz lagert jetzt im Gemeindehaus Lutherberg. Die Abendmahlskelche verwendet sie bei den Gottesdiensten in Sankt Thomas Morus. Das große Bild von Antonie Bitsch aus dem Altarraum wurde den Erben der Malerin zurückgegeben. Die Paramente, also die Textilien auf dem Altar und an der Kanzel, gingen zurück an diejenigen, die sie vor vielen Jahren gewebt hatten. Den Altar werden die Ev. Kirchengemeinden Annerod und Oppenrod künftig nutzen.
Einen Erinnerungsort wird auch das Taufbecken in der Außenanlage des im Lauf der Jahrzehnte eng mit dem der Gemeinde verbundenen AWO-Seniorenheims „Albert-Osswald-Haus“ finden. Die Bänke wurden an Berufsschulen zur Weiterverarbeitung gegeben und die Sitzpolster an Kitas.
Das Oberhessische Museum übernahm Erinnerungsobjekte
Gerne nahm das Oberhessische Museum ein Gemälde, einen typischen Klappstuhl mit Fach für das Gesangbuch sowie ein Modell der Wichernkirche. An einem der bunten Betonglasfenster hat das Stadtmuseum ebenfalls Interesse. Künftig wird dort verstärkt Alltagsgeschichte und die Veränderung des Stadtbilds präsentiert. Zur Gießener Nachkriegsgeschichte gehört die Wichernkirche wie der weithin sichtbare Glockenturm, so die Museumsmitarbeiterin, Dr. Julia Schopferer. Für Menschen, die dort getauft, konfirmiert oder getraut wurden, bleibt die Kirche ein Erinnerungsort. „Besser kann man sich doch zukünftig nicht erinnern und ein Gebäude erfassen als durch ein Modell, das man von allen Seiten betrachten kann“, freut sich Schopferer.
Die drei Glocken, die sechs Jahrzehnte zum Gebet und zum Gottesdienst geläutet haben, werden ab dem 8. Januar im Inneren des Turms abgelassen, auf einen LKW verladen und sicher verwahrt. Interessenten für gebrauchte Glocken im In- und Ausland finden sie dann im Internet. Allerdings soll die kleinste der drei Glocken, die bereits vor dem Bau der Kirche in einem Turm vor dem Pfarrhaus läutete, in der Gemeinde verbleiben. Beim Verkauf der beiden großen Glocken wird die Gemeinde von zwei Experten aus dem Raum Hannover unterstützt, die in ihrer Online-Glockenbörse schon viele Glocken vermittelt haben.
Orgel geht in die nahe Sankt Thomas Morus-Kirche
Auch die Orgel wird weiter genutzt, sogar in unmittelbarer Nachbarschaft. Dem katholischen Regionalkantor Martin Gilles gelang es Verantwortliche zu überzeugen, die voll funktionsfähige Orgel der Firma Streichert-Hofbauer in die Kapelle der Sankt Thomas Morus Kirche zu übernehmen. In den nächsten Tagen beginnt der Umzug. „Künftig wird es als Übungsinstrument für die kirchenmusikalische Ausbildung und für die Begleitung der Gottesdienste durch eine authentische Pfeifenorgel genutzt werden“, so Gilles. 1979 von Mitarbeitenden der Wicherngemeinde selbst zusammengebaut, hat die in ihrer Art als einzig fachlich abgenommene Bausatzorgel also nicht nur einen historischen Wert.
Abriss der Kirche
Anfang Februar wird es ernst. Für den Geschäftsführer von Depant, Kai Bülow, ist der Abriss auch kein alltäglicher Schritt - allerdings weniger aus technischen Gründen. „Leichten Herzens reißen wir die Kirche nicht ab; lieber haben wir in der Vergangenheit welche gebaut“, sagt Bülow, der sich selbst in einer christlichen Gemeinde engagiert. Ohnehin sei geboten, den Abriss mit Bedacht vorzunehmen. „Weil Kirche und der gut 25 Meter hohe Turm unmittelbar an der Straße stehen, werden die Gebäude voraussichtlich mit einem ausfahrbaren Greifbagger von oben nach unten in Bruchstücken herausgegriffen“ , erklärt er das Vorgehen.
Dabei werden wiederwertbare Materialien gesichert, etwa gut erhaltenes Holz, Naturstein oder Metall. Hierum bemüht sich Depant im Sinne der Kreislaufwirtschaft. Auch die sieben Meter hohen Buntglasfenster sollen, so der Wunsch Bülows, einen Abnehmer finden. Und vielleicht werden die Bauherren der drei geplanten Wohn- und Geschäftsgebäude auf dem Areal der heutigen Kirche eine bleibende Erinnerung in die Außenanlage des neuen Gebäudekomplexes integrieren können. Im Gespräch ist beispielsweise der Metallbeschlag der Eingangstüren, die den Barmherzigen Samariter zeigen. „Wir halten den Lauf der Zeit damit nicht auf, können aber eine Erinnerung schaffen“, sagt Bülow.